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Verschwörungsdenken und bürgerliche Gesellschaft – Zur Freiheit des Irrationalismus
20. Oktober 2023 @ 19:00 - 21:00
Der Vortrag führt in das Verschwörungsdenken als Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, in denen es entsteht.
Auffällig ist beim Verschwörungsdenken heute der lautstarke Bezug auf die eigene Freiheit, die erst durch die vermeintlichen Verschwörungen massiv eingeschränkt wird. Der dem Verschwörungsdenken inhärente Widerstandsgestus vereint sich hier mit einem Verständnis von Freiheit, das ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen leugnet. In verzerrter Weise wird im Verschwörungsdenken schon immer gesellschaftliche Herrschaft reflektiert: Die enorme geldvermittelte Verfügungsgewalt sehr reicher Menschen und großer Konzerne über die gesellschaftlichen Ressourcen wie auch die Ohnmacht angesichts eines gegenüber den Menschen verselbstständigten Wirtschaftssystems, alles dies greift das Verschwörungsdenken in personalisierender Weise auf. Niemand kontrolliert heutzutage die Gesellschaft, wie es sich in Verschwörungsideologien gedacht wird, dennoch sind alle Menschen – mehr oder weniger – vielfältigen, letztlich irrationalen Zwängen unterworfen. Zwar war die Vorstellung absoluter Macht immer schon Ideologie, das aber umso mehr in einer Gesellschaft, in der Herrschaft nicht an Geburtsrecht geknüpft und der Einfluss der Einzelnen oder kleiner Gruppen verschwindend gering ist, sofern nicht hinreichende Konzessionen an gesamtgesellschaftliche Tendenzen gemacht werden. Diese gesamtgesellschaftlichen Tendenzen sollen daher auch als Ansatzpunkte einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft dienen, welche im Verschwörungsdenken letztlich eine – trotz allem damit verbundenen kritischen Gestus – konservative und höchst unkritische Veranstaltung erkennt. Denken in Verschwörungen lässt die grundlegenden Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung unangetastet, meint, mit dem (vermeintlichen) Personal das Übel aus der Welt zu befördern, wobei dieses aus der Perspektive des Verschwörungsdenkens ohnehin immer nur als fremde oder entfremdete Macht vorkommt. Ein Denken in Verschwörungen betrachtet die moderne Gesellschaft immer nach den geflügelten Worten Margret Thatchers, so als gäbe es gar keine Gesellschaft, sondern nur freie und isolierte Individuen, von denen einige sogar, mit gewaltigen Fähigkeiten ausgestattet, angeblich die Geschicke der Welt nach ihrem Willen steuern.
In einer Zeit, in der das Versprechen der führenden Industrienationen nach immer mehr Wohlstand für nachfolgende Generationen massiv an Plausibilität einbüßt und sich gesellschaftliche Gruppen und Organisationen herausbilden, die den vielfältigen Krisen dieser Zeit den Kampf ansagen, übernimmt das Verschwörungsdenken die Funktion der Konservierung bei gleichzeitiger Selbstdarstellung seiner Vertreter*innen als Rebell*innen und wahre Kritiker*innen. Verschwörungsdenken macht damit apodiktisches Wissen wieder attraktiv in einer Zeit, in der dogmatische Behauptungen ausgedient haben. Absolute Skepsis und dogmatisches Rechthaben gleichen sich im Verschwörungsdenken an. Verschwörungsdenken, das will der Vortrag zeigen, ist dabei der epistemische Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung heute. Fehlt ein demokratisch konstituiertes Gesamtsubjekt zersplittert das gesellschaftliche Wissen und die kritische Debatte als Grundlage sinnvoller Entscheidungsfindungen.
Entsprechend ist das Denken in Verschwörungen keine unabänderliche Eigenart der Menschen, sondern eine tief in die gesellschaftliche Praxis eingebundene Art und Weise der Welterschließung und Selbststabilisierung, etwas von dessen Grundlagen sich niemand von uns frei machen kann, die aber gerade deshalb kritisch zu reflektieren ist.